…die dicken Betonplatten, welche uns den Weg nach Kasachstan weisen, liegen wie Kraut und Rüben. Zwischen den zerbrochenen Platten stechen immer wieder Armierungseisen hervor. Zwei Kilometer kraxeln wir diesem Flickwerk entlang, bis sich vor uns wieder alles aufreiht. Rechts stehen die TIR-Lastwagen, in der Mitte kommen uns die Ausreisenden entgegen und links neben der Fahrbahn warten erneut unzählige Usbeken. Wir werden zwischen den Kolonnen hindurch gelotst, bis wir auf eine kurze Schlange mit Kasachen und Russen treffen. Erleichtert stellen wir uns hinten an. Ein kurzer Spaziergang rund ums Auto und schon werden wir von den anstehenden Kasachen freundlich in ihrem Land willkommen geheissen. Während sich die Kolonne der LKWs sowie unsere Stück für Stück nach vorne bewegt, stehen die Usbeken nach wie vor still. Als wir nach über einer Stunde Wartezeit am Zoll vorfahren, haben sich die Usbeken noch immer keinen Zentimeter gerührt. Mit lobenswerter Unterstützung eines Kasachen meistern wir die Formalitäten schnell und sogar auf Anhieb richtig. Die Fahrzeugkontrolle ist auch nur pro forma und so werden wir nach kurzer Zeit von den Beamten winkend verabschiedet.
Die Nacht legt sich langsam über Kasachstan. Im Dunkeln halten wir Ausschau nach einem Schlafplatz und werden bald unweit der Strasse fündig. Erschöpft fallen wir ins Bett und freuen uns auf unvergessliche Tage in der Steppe.
Ausreichend Schlaf, wärmende Sonnenstrahlen und eine grosse Portion Rührei versüssen uns den Morgen. Leider steht aber auch noch eine unschöne Sache an. Nach einem kurzen Fotohalt war es gestern so weit. Der Moment, vor dem sich jeder Overlander fürchtet. Zündung ein - gefolgt von einem kurzen Räuspern und alle Lichter gingen aus. Jonas ist unbeabsichtigt an den Batteriehauptschalter gekommen und 80 Ampère reichen nun mal nicht aus, um unser Zuhause in Bewegung zu setzen. Somit steht heute die notwendige Reparatur an. Eingezwängt unter dem hochgeklappten Fahrersitz wird die neue Sicherung mühselig reingewurstelt und schon bald leuchtet die Batterieüberwachung wieder wie ein Christbaum.
Unsere Odyssee durch Oral beginnt mit der Parkplatzsuche. Parkplätze, die ansonsten in jeder Stadt in Überzahl vorhanden sind, finden wir hier nur dank unserem elektronischen Helfer. Zu Fuss machen wir uns weiter auf die Suche nach dem Zentrum. Ein paar Strassen weiter finden wir zumindest etwas Leben. Für nur 1900 Tenge (Fr. 5.50) sind wir im Nu wieder 30 Tage online. Mit dem Übertritt nach Kasachstan sind wir erstmals so weit von Zuhause fort, dass unsere grüne Versicherungskarte nichts mehr Wert ist. Deshalb beginnen wir schon auf dem Rückweg zum Auto mit der Suche nach Versicherungsgesellschaften. Endlich wieder am Parkplatz angekommen, übermannt uns der Hunger. Also noch einmal zu Fuss zurück, bevor wir in ein Zuckerloch stürzen, denn wer kann schon wissen, wie lange das mit den Versicherungen dauern wird. Selbstverständlich liegt der Fahrzeugausweis noch im Auto. Zum zweiten Mal begeben wir uns deshalb zurück zum Parkplatz. Aus versicherungstechnischen Gründen lassen wir das Auto abermals stehen, doch schon nach halbem Weg zum Versicherer schmerzen uns die Füsse. Ausserdem ist es zu heiss und zu weit - wir kehren um. Mit dem Auto durch die Stadt geht’s doch um einiges Bequemer und Schneller. Die erste Gesellschaft stellt keine Versicherungen aus und leitet uns an die Konkurrenz auf der gegenüberliegenden Strassenseite weiter. Im Gebäude ist wie immer nichts angeschrieben. Überfordert irren wir von Gang zu Gang bis uns ein Vertreter abfängt. Umzingelt von Schreibtischen und durchdringenden Blicken stehen zwei Stühle für uns bereit. Mit fünf Wörtern englisch, drei Wörtern russisch und Google Translate bekommen wir unsere Haftpflichtversicherung zum Discountpreis von 10’000 KZT. Während Jonas noch die letzten fehlenden Dokumente aus dem Fahrzeug holt, wird Sandra im Büro verhört. Die wissbegierigen Makler wollen alles über unsere Reise erfahren.
Unser Appartment für diese Nacht sieht auf dem Buchungsportal schaurig schön aus. Die rot beleuchteten Leoparden-Bettbezüge erwecken in uns das Bild eines Stundenhotels. Aber für nur CHF 18 können wir uns dieses Erlebnis nicht entgehen lassen. Ringel-Ringel-Reihe, nach dem dritten Rundgang um den Wohnblock treffen wir endlich auf unsere Vermieterin. Die hektische, ältere Dame führt uns durch unser temporäres Zuhause. Beim Verabschieden traut sie uns noch ihren wertvollsten Besitz an. Aus ihrer Tasche zaubert sie einen WLAN-Router und die Fernbedienung für die Klimaanlage. Anschliessend übergibt sie uns die Schlüssel bis morgen um 10:00 Uhr. In Wirklichkeit hat die alte Sovjetwohnung viel mehr Charm als auf den schlechten Bildern im Netz. Für ein Feierabendbier geht’s nochmals raus auf die Strasse. In einem Restaurant um die Ecke schmeckt das Essen gut und der Kübel Bier für CHF 0.65 noch besser. Zu unserem Erstaunen verweilen sich um uns herum fast nur bierschlürfende (mit Strohhalm!) Frauengruppen - die Männer haben wohl Hausarrest. Wieder Zuhause angekommen, erfreuen wir uns an einer neuen Nachricht von einem unserer Grenzfreunde. Mit vielen herzlichen Grüssen und einem kasachischen Lied als Souvenir wünscht er uns eine wundervolle Reise.
Pünktlich um 09:00 Uhr weckt uns unser Telefon. Freundlich, aber auf ihre gestresste Art erklärt uns die Vermieterin, dass es hier in Oral bereits 10:00 Uhr ist. Freundlicherweise gewährt sie uns aber eine Stunde Aufschub. Die Wohnungsübergabe verläuft ähnlich wie gestern. Gemeinsam verlassen wir daraufhin das Appartment - wir mit unseren sieben Sachen, sie mit der Fernbedienung und dem Router. Während Sandra wieder alles in unser Fahrzeug packt, fragt Jonas den Parkplatzwächter nach einer Wassertanke. Bereitwillig stellt er uns seinen Anschluss zur Verfügung. Kanister für Kanister füllen wir in unseren Tank bis kurz vor dem Überlaufen. Um der guten Tat Rechnung zu tragen, bieten wir ihm ein Trinkgeld an, was er jedoch vehement ablehnt.
Um noch besser auf die weite Steppe vorbereitet zu sein, stocken wir auch noch unser Proviant auf, und zwar in einem Supermarkt - wortwörtlich, denn treffender könnte man den Begriff wohl kaum verwenden. Im mehrstöckigen Gebäude bieten Bäcker, Fleischer, Käser, Wodka- und Kleiderhändler ihre Waren feil. Sandra wird vor lauter Staunen beinahe von den hektischen Kunden überrannt. Eine freundliche Stimme grüsst uns, als wir die letzten Einkäufe in unsere Speisekammer einräumen. Überraschend treffen wir nochmals auf unsere rechte Hand von der Grenze. Aufs Neue wünscht er uns alles Gute. Mit vollem Lager und Elan düsen wir los, werden jedoch schon am Stadtrand von der Polizei gestoppt. Ein kurzer Small-Talk und ein bewundernder Blick auf unser Zuhause und schon dürfen wir weiter. Entlang der Hauptrasse nähern wir uns Aktobe. Die schlichte Landschaft hat viel mehr zu bieten, als wir erwartet haben. Die Anzahl Greifvögel, welche wir zu Gesicht bekommen, ist unfassbar. Entweder sitzen sie majestätisch auf den vereinzelten Baumkronen oder eskortieren uns für einige hundert Meter.
Mitten im Nirgendwo schlagen wir heute unser Zelt auf. Während wir die Ruhe geniessen, nähert sich uns plötzlich ein Auto an. Drei Männer steigen aus und kommen auf uns zu. Freundlich und schwärmend beginnen sie sich mit uns zu unterhalten. Wohin sie denn mitten in der Steppe unterwegs sind, wollen wir wissen. Bedacht geben sie zur Antwort: “Zum Angeln.” Perplex schauen wir uns gegenseitig an. Um uns die Runzeln aus den fragenden Gesichtern zu glätten, versuchen sie uns zu erklären, dass es dort hinten bei der Yacht einen Fluss hat. Wir bleiben skeptisch, verabschieden die jungen Männer aber freilich mit einem “Petri Heil” und einem Foto zur Erinnerung.
Zum beeindruckenden Sonnenuntergang (nachfolgend SUG), wie wir ihn ansonsten nur aus Afrika’s Bilderbücher kennen, geniessen wir unseren ersten Abend in der Steppe.
Kaum haben wir uns nach dem Frühstück in Bewegung gesetzt, fahren wir doch tatsächlich an Schiffen vorbei. Das Rinnsal, welches wir überqueren, sieht aber viel zu klein aus für solch eine Yacht. Trotzdem staunen wir nicht schlecht. Zudem bietet uns der Fluss eine sinnvolle Erklärung für die unerwartete Mückenplage mitten in der Steppe.
Die weissen Kalksteinspitzen am Horizont erinnern uns an frisch verschneite Bergspitzen in unserer Heimat. War es rund um Oral noch grün, ist jetzt alles verdorrt oder gar verbrannt. Das ausgebrannte Gerüst eines verunfallten Autos liegt noch mitten in der verkohlten Steppe. Die Weite beeindruckt uns sehr. Ausser fliegenden Büschen, die durch Windhosen wie von Zauberhand in die Luft gehoben werden, bewegt sich um uns herum nicht viel. Im Hypermarkt in Aktobe finden wir alles, was unser Herz begehrt und noch vieles mehr. Ziege, Kuh, Stute und Kamel - nein, kein Streichelzoo, sondern das Milchsortiment. Kaum haben wir die letzten Einkäufe samt Stutenmilch verstaut, eilt auch schon der “Einkaufswägelieinsammler” herbei und chauffiert unseren Wagen zurück zur Sammelstelle. Sandra ist über diesen Service ganz verblüfft. Da sich das wahre Leben abseits der Hauptstrassen abspielt, verlassen wir die perfekt asphaltierte Magistrale. Die ersten 102 Kilometer auf unserer neuen Route, der A-27, sind nervenaufreibend. Während die hohen Spurrillen unseren Landy fest im Griff haben, treiben uns die anderen Autofahrer mit ihren waghalsigen Überholmanövern den Angstschweiss auf die Stirn. Mit aufgeheizten Gemütern diskutieren wir noch einmal unsere Routenwahl, werden uns jedoch nach kurzer Zeit einig. Es gibt nur einen Weg, vorwärts! Nach dem Abbiegen auf die A-26 nimmt der Verkehr stetig ab. Die Strasse wird aber nicht besser - im Gegenteil.
Kurz nach Einbruch der Nacht beginnt es übel zu riechen. Sandra prophezeit bereits tote Tiere unter der Matratze, weshalb wir das halbe Auto auf den Kopf stellen. Weder tote Ratten, noch Kamele kommen zum Vorschein. Zum Glück lässt der penetrante Gestank aber langsam ein wenig nach. Doch schon zum Morgengrauen frischt der grässliche Duft wieder auf. Angewidert lassen wir das Frühstück sausen und rasen davon. Es muss ein ausgewandertes Stinktier gewesen sein. Anders können wir es uns bis heute nicht erklären. Unterwegs mit 22 km/h erkämpfen wir uns jeden Kilometer. Die lotterige Strasse sieht aus wie ein explodiertes Minenfeld. Im Gegensatz zur verdorrten Steppe, welche wir am Morgen durchfahren haben, essen wir die belegten Brote zum Mittag zwischen sanften grünen Hügeln. Der Pass über das Mugodschar-Gebirge liegt stolze 315 Meter über Meer.
Ausgetrocknet, müde und von den vielen Schlaglöchern durchgeschüttet, wollen wir nur noch weg von dieser Strasse. Der trockene Wind in der unerbittlichen Nachmittagshitze saugt die Schweisstropfen regelrecht aus allen Poren. Die abwechslungsreiche Natur von leuchtend roter Erde, gefolgt von goldenen Grassteppen bis hin zu steinigen Wüsten, vernachlässigen wir wegen der ganzen Tortur sträflich.
Schon von Weitem nehmen wir eine Staubwolke am Horizont wahr. Die zwei riesigen Kamaz Lastwagen mit der Aufschrift “Mobile Klinik” machen uns bewusst, welch abgeschiedene Gegend wir durchfahren. Langsam aber stetig tuckern sie an uns vorbei. Der durch die schlechten Strasse wippende Anhängerzug erinnert uns an den gemächlichen Gang der hiesigen Kamele. Nach 220km und elf Stunden ist endgültig Schluss für heute. Wir bauen den Foxwing auf und waschen den Staub von unseren geschundenen Körpern. Eine Dusche - so erholsam wie ein ganzes Wellness-Wochenende im Südtirol. Den Aufbau des Foxwings hätten wir uns sparen können, denn die einzigen Zuschauer sind heute ohnehin nur Kamele. Der obligate SUG wird heute durch die Silhouetten der Kamele verziert, hoffentlich ein Vorgeschmack auf die Oasen Arabiens.
Um der unerbittlichen Hitze möglichst lang zu entfliehen, starten wir schon kurz nach Sonnenaufgang. Mit Shalkar gelangen wir endlich an den Scheitelpunkt der A-26. Die Strassen werden besser. Zwischendurch erreichen wir sogar wieder Spitzengeschwindigkeiten von 60km/h. Ein altbekannter Geruch steigt uns in die Nase. Schon seit Rumänien verfolgt uns der beissende Gestank von brennendem Müll. Im Unterschied zu bisher brennt der Müll dagegen nicht in einem Dorf, sondern wird hier am Strassenrand von vollständig vermummten Männern gesammelt und verbrannt. Bei jedem Meilenstein klopfen wir uns ab. Das Mittagessen nehmen wir für einmal mitten auf der Strasse zu uns - wir wollen ja nicht die guten Pfade am Strassenrand blockieren. Endlich hat es wieder andere Fahrzeuge auf der Strasse, was wir bis anhin durch all die Ablenkung gar nicht wahrgenommen haben und ausnahmsweise sorgen sie für einmal für Erleichterung. Nach drei Tagen und 389 Kilometern auf der A-26 ist die Erlösung riesig, als wir endlich den tief schwarzen Asphalt der Magistralen erblicken. Auf der Rampe einer nahegelegenen Raststätte vergewissern wir uns, ob wir all die harten Schläge ohne physische Narben überstanden haben.
Unbeschwert rollen - oder besser gesagt - schweben wir über die brandneue Strasse nach Aral. Je weiter wir uns dem Aralsee annähern, desto sandiger und dürrer wird die Landschaft. Der Wohlstand ist zeitgleich mit dem Wasserstand gesunken. Die gepflegten Parkanlagen und Statuen sind die letzten Überbleibsel der ansonsten trostlosen Stadt. Auf der Suche nach dem ehemaligen Hafen schlängeln wir uns durch die Strassen. Bei einem kurzen Stopp sind wir plötzlich von neugierigen Kindern umgeben. In der Gruppe werden sie mutiger und schicken den kleinsten zu uns vor. Leider verstehen wir ihre Fragen nicht, können aber ihren glänzenden Augen entnehmen, wie sie von unseren Fahrrädern träumen. Die Bewohner nutzen die kühleren Abendstunden für einen Plausch auf der Strasse. Vorbei an Kamelen, die gemächlich durch die Strassen ziehen, fahren wir in den einst bedeutsamen Aralsee hinein. Kaum über der Kuppe erblicken wir das Unerwartete - ein riesiges Meer aus Müll. Die Dunkelheit hat uns eingeholt. Mit Vollbeleuchtung tasten wir uns über den ehemaligen Seegrund vor, bis wir mitten auf dem Pfad unser Auto abstellen
Schon vor der Morgendämmerung fahren die ersten Fahrzeuge an uns vorbei. Sieben Kilometer sind wir bereits in das ehemalige Seebecken vorgedrungen. Von Wasser oder gar den berühmten Schiffswracks fehlt auch bei Tageslicht jede Spur. Zwei Kasachen brausen uns mit ihrer Klapperkiste entgegen und möchten unbedingt ein Foto von uns machen. Sie erklären uns, dass dieser Weg nirgends hinführt, wollen uns aber vermutlich zu den Schiffen führen. Wir verstehen nur “120km, Benzin, bezahlen, Bier und Wodka”. Bei den letzten beiden Begriffen werden wir skeptisch und folgen unserem Weg immer tiefer in den ehemals viert grössten Binnensee der Welt. Wasser! Nach über 16km sehen wir endlich Wasser am Horizont. Die weltbekannten Schiffswracks bleiben aber weiterhin vor uns verborgen. Um das weitere Vorgehen zu besprechen, kochen wir uns erstmals einen Kaffee. Da wir auf hoher See kein Handy Empfang haben, beschliessen wir für weitere Recherchen in die Stadt zurückzufahren. In der Stadt angekommen, bietet uns ein weiterer Passant seine Hilfe an. In einem Mix aus russisch-englisch erklärt er uns, dass die Schiffe schon seit langer Zeit recycelt wurden.
Strassenkontrolle - Jonas muss sich im Büro registrieren lassen, damit der freundliche Beamte ungestört mit Sandra flirten kann. Während die Menschen, Kühe und Schafe vor der Hitze in den vorhanden Schatten flüchten, trampeln die Kamele quietsch fidel über die sandigen Hügel. Neben einem Weiher richten wir unser Zuhause ein. Doch plötzlich ein unheilvolles Geräusch - die Wasserpumpe dreht im Leeren und wir bangen um unseren Wasservorrat. Erleichtert quetschen wir jedoch noch gut sieben Liter aus dem vermeintlich leeren Tank, was bis morgen früh reichen sollte. Während wir faulenzen und schwitzen, ergründen wir die Geschehnisse von heute morgen. Wir kommen zu folgendem Schluss: Schiffswracks soll es nur noch in Akbasty (und ganz sicher in Muynak, Usbekistan) geben, welches ungefähr 120km südwestlich von Aral liegt und die zwei Süsswasser Matrosen wollten uns für Benzingeld mit ihrem Boot dorthin führen. Doch nicht ganz so unsympathisch, wie sie auf den ersten Blick schienen. Wir träumen weiter vor uns hin bis eine dichte Staubwolke am Horizont eine grosse Schaf- und Ziegenherde ankündigt. Wir empfangen den Hirten freundlich. Nach dem ersten kurzen Quatsch fragt er uns nach Wasser, woraufhin wir ihm selbstverständlich einen Becher voll reichen. Er nippt daran, wirft uns einen entsetzten Blick zu und spuckt daraufhin alles wieder aus. “Warm, warm” keift er und leert den Rest des Bechers ebenfalls in den Sand. Wir verstehen die Welt nicht mehr. Sprachlos sitzen wir in unseren Stühlen während er sich verabschiedet. Mit offenen Mündern verfolgen wir seinen Weggang. Hat er jetzt tatsächlich unser kostbares Wasser verschüttet? Nach kurzer Zeit haben wir uns wieder etwas gefangen und geniessen das Nachtessen und die Natur bei einem weiteren wunderschönen SUG.
Entlang der Hauptstrasse sehen wir häufig Adler, Steinböcke und Büsten wie sie übermenschlich auf ihren steinernen Sockeln thronen. Durch die zum Teil feudalen Mausoleen sehen die Friedhöfe von weitem aus wie kleine Städte. Jonas kommt seinem Traum vom Weltraum so nahe wie nie zuvor. So nah und doch so fern, denn etwa 20km um das Kosmodrom ist alles abgesperrt. Immerhin dürfen wir ein Foto vom Schlagbaum machen. In Baikonur wollen wir unseren Wasservorrat aufstocken. Doch auch hier wird niemand ohne Spezialbewilligung und Russland Visum reingelassen. Bis 2020 ist das Kosmodrom samt Stadt Baikonur an Russland verpachtet. Mit gültigen Papieren kann man direkt von Moskau aus mitten in die kasachische Steppe fliegen ohne dabei kasachischen Boden zu betreten. Da unser Russland Visum aber bereits abgelaufen ist, bleibt uns nichts anderes übrig als ein paar Liter Wasser an der Tanke zu kaufen und unverrichteter Dinge weiterzuziehen. Um unserem Wassertank doch noch die Luft zu rauben, halten wir bei der nächsten Wasserzapfstelle. Leider ist uns die Quelle nicht ganz sympathisch, dafür Letiticia und Gian Carlo aus Italien umso mehr. Endlich wieder jemand, mit dem sich Sandra länger unterhalten kann - und dazu noch auf italienisch. Während wir unsere Erfahrungen austauschen, begutachten Polizisten unsere Fahrzeuge. Zwischenzeitlich tauschen wir kasachische Kekse gegen italienischen Kaffee ein. Wie aus dem Nichts stehen auf einmal dieselben Beamten wieder vor uns, diesmal mit einer riesigen Wassermelone in ihren Händen - ein Willkommensgeschenk an die Reisenden.
Weiter geht’s vorbei an Ortschaften mit einfachen Namen wie “Siedlung Nr. 27” aber auch an wohlklingenderen wie “Karla Marksa”, “Lenin” “Engels” und “Pijerwi Maija (Erster Mai)”, welche an die Sowjetzeit erinnern. Um einzukaufen fahren wir nach Kyzylorda. Völlig überraschend führt uns die Strasse vorbei an grünen Parkanlagen und imposanten Gebäuden. Unser wohlverdientes Glacé schmilzt bei 38°C schon bevor wir wieder unser Auto erreichen. Im Einzugsgebiet der Lebensader “Syr Darya” verwandelt sich die dürre Landschaft zusehends in ein sattgrünes Meer aus Pflanzen. Am Dorfende neben einer schwimmenden Brücke schlagen wir für heute unser Zelt auf. Selbst die Einheimischen scheinen dieser Brücke nicht vollumfänglich zu vertrauen, denn die Fahrgäste passieren die Brücke jeweils zu Fuss. Nur der Fahrer riskiert Kopf und Kragen, aber uns lässt das für einmal ziemlich kalt. Wir interessieren uns nur noch für unser “Gschnetzlets mit Stocki”, mhhh…
Am Morgen früh erwartet Jonas bereits die erste böse Überraschung. Anstatt mit sauberen Lappen, kehrt er schlammgebadet zurück. “Wer den Schaden hat, muss für den Spott nicht sorgen”, Sandra kugelt vor lauter lachen beinahe aus dem Bett.
In der Einöde erblickt Jonas einen Streifenwagen am Strassenrand. Kontrollblick auf den Tacho - 82km/h anstatt den erlaubten 100km/h - kein Problem. Falsch gedacht, denn nur nach wenigen Metern fordert uns die Polizei mit Blaulicht auf anzuhalten. Wie auf dem wunderschönen und sogleich messerscharfen Foto unschwer zu erkennen ist, fuhren wir innerorts (60km/h). 20’000Tenge (USD 60) Busse fordern die Polizisten. Während Sandra schon üble Korruption wittert, will Jonas reumütig seine Schuld bezahlen und ungestört weiter fahren. Doch wie wir im Nachhinein im Internet recherchieren, sind wir mit unserer Busse noch gnädig davon gekommen, denn eigentlich sind KZT 20’000 pro 10km/h zu viel fällig. Nach diesem unangenehmen Zwischenstopp führt uns der Weg fort vom satten Grün zurück in die Wüste zu den Ruinen der einst florierenden Handelsstadt Sauran. Wegweiser um Wegweiser nähern wir uns, doch anstatt von bröckelnden Lehmwänden, sind wir plötzlich von feiernden Menschen umzingelt.
Vom Brautvater werden wir ins Wohnzimmer geführt, wo wir erstmals mit allen erdenklichen Speisen und Getränken eingedeckt werden. Die Geschwister der Braut leisten uns Gesellschaft. Der Bruder spricht kein englisch, dafür die jüngere Schwester umso besser. Während der Bruder zum Geld verdienen in die Stadt ziehen musste, darf die kleine Schwester die Schule im Dorf besuchen. Mit vollem Bauch werden wir zum Tanz aufgefordert. Mitten im Innenhof des Anwesens wird die Musik aufgedreht und wir schwingen samt den anderen Gästen unser Tanzbein. Um die Gäste aus weiter Ferne auch angemessen zu begrüssen, stattet uns sogar der Bürgermeister höchstpersönlich einen Besuch ab. Stolz heisst er uns in seinem Reich willkommen. Obwohl uns die halbe Dorfbevölkerung den Weg nach Alt-Sauran bereits mehrfach erklärt hat, lässt es sich der Bürgermeister nicht nehmen, uns seine persönliche Beschreibung durch seinen hofeigenen Dolmetscher auch noch zu überbringen. Da die Feierlichkeiten noch in vollem Gange sind, lassen uns die Hochzeitsgäste nur ungern ziehen. Mit Wodka und Tanzmusik wollen sie uns zum Bleiben überreden. Unser Verstand rät uns aber dankend abzulehnen. Entsprechend machen wir uns mit einer Hampfel Wegbeschreibungen auf die Suche nach der sagenumwobenen Karawanenstadt.
Dort angekommen erbarmen wir die Handwerker, welche in der unmenschlichen Hitze Restaurierungsarbeiten ausführen. Noch ist die Struktur der Altstadt etwas schwierig zu erkennen, doch für weitere Untersuchungen ist uns schlicht zu heiss.
Durch den Fahrtwind wird die Hitze erträglicher und schon bald erreichen wir Turkestan. Hier erwartet uns das erste grosse muslimische Bauwerk auf unserer Reise. Das unvollendete Yassawi Mausoleum ist ein erster Vorbote auf die gigantischen Bauten entlang der Seidenstrasse. Damit sich auch die Einheimischen einen Besuch leisten können, müssen sie nur halb so tief in die Tasche greifen, wie wir westlichen Touristen. Nun ist es so weit, für Sandra kommt zum ersten mal die Kopftuchpflicht zum Zuge. Infolge der hohen Temperaturen entscheiden wir uns für einen leichten Seidenschal, was sich jedoch als äusserst mühsam herausstellt. Halb so tragisch, aller Anfang ist schwierig und bis zum Iran bleibt uns ja noch genügend Zeit um zu üben.
Nach diesem aufregenden Tag sehnen wir uns nur noch nach einem ruhigen Schlafplatz, am liebsten mit “Pool”. Fix und fertig geben wir uns mit dem erst besten Schwimmbad, Pferdetränke und Autowaschanlage zufrieden. Vorerst machen wir aber lediglich von der ersten Variante Gebrauch, dem Schwimmbad. Mit T-Shirt und Jonas’ Badehosen werfen wir uns der Strömung entgegen, denn Frauen im Bikini sind hier eher unüblich. Wie Aussätzige schlafen wir unter einer Brücke am Rande eines Bauerndorfes. Aufmerksamkeit haben wir dadurch dennoch gewonnen. Ein kleiner Junge kommt nicht mehr aus dem Staunen und begutachtet unser Zuhause für mehrere Stunden. Auf die Frage, ob er mit uns Abendessen wolle, schüttelt er verneinend den Kopf und dreht mit grossen Augen eine weitere Runde um unser Fahrzeug. Geschaffen fallen wir in unsere Federn, doch anstatt dem üblichen Schnarchen, hört Sandra zum ersten Mal die Gebete des Muezzin.
Aufgeschreckt durch ein Geräusch spähen wir durch unsere Fenster und erblicken schon bald den selben Knaben wie gestern Abend. Fasziniert von dem Fremden zieht er erneut seine Runden um unser Auto - ein neuer “Overlander” ist geboren. Im Fluss waschen wir uns den Schlaf aus den Gesichtern, bevor wir uns weiter an Shymkent vorbei in Richtung Almaty bewegen. Tausende Kilometer Ebene haben wir durchquert, bevor sich vor uns schneebedeckte Berge erheben. Die goldigen Weizenfelder auf den sanften Hügeln werden von grünen Apfelbäumen geschmückt. Von Kilometer zu Kilometer fällt die Temperatur. Von der frischen Bergluft können wir nicht genug bekommen und so entscheiden wir uns kurzerhand hier zu bleiben. Ein lauschiges Plätzchen am Fluss, schneebedeckte Berge und kühle 29°C - fast wie Zuhause. Nur die Cowboys zum SUG verraten, wo wir uns tatsächlich befinden und auch das Dessert “Kurut” passt nicht ganz in die Schweizer Küche.
Die 450km lange und bis zu 4000 Meter hohe Felswand, welche uns von Kirgisistan trennt, erinnert uns an “The Wall” von Game of Thrones. Hoffnungsvoll, aber etwas verunsichert, fahren wir entlang der A-2. Zu unserem Glück bleiben die bemannten Wachtürme stets auf der rechten Seite und so können wir trotz den von Google angekündigten Überschneidungen von Grenze und Strasse ohne Übertritt in Richtung Alma-Ata weiter ziehen. An einem Bewässerungskanal finden wir einen ruhigen Platz zum Schlafen. Durch die wiederkehrenden Überflutungen ist jedoch das ganze Umland mit haufenweise Müll zugepflastert. Leider ist das eine Konstante, die uns die ganze Reise hindurch begleitet.
Stossstange an Stossstange tasten wir uns im Schritttempo in die ehemalige, aber immer noch inoffizielle, Hauptstadt Almaty vor. Der Weg von unserem Hostelzimmer zum Parkplatz führt uns geradewegs durch eine Gartenbeiz. Da wir es uns nicht mehr gewohnt sind in einem angewachsenen Zuhause zu nächtigen, haben wir natürlich die Hälfte im Auto vergessen. Bei jedem Gepäckstück, das wir nach und nach ins Zimmer bringen, springt die gelangweilte Bedienung auf, in der Hoffnung, doch noch einen Gast bedienen zu können. Da uns das schlechte Gewissen plagt, trinken wir schliesslich doch noch ein erfrischendes Bier. Beim nächtlichen Verdauungsspaziergang durch den Park überrascht uns vor allem die Lebendigkeit. Viele Familien verbringen die Abendstunden spielend vor der Zenkow Kathedrale.
Zum Frühstück überrumpelt uns die kasachische Gastfreundschaft ein weiteres Mal. Während wir verschlafen unsere Corn Flakes mampfen, lädt uns eine Familie an ihren reichlich gedeckten Tisch ein. Damit wir in ihrem Land auch kein Highlight verpassen, besorgt uns der Vater noch einen englischen Reiseführer.
Mit druckfrischen Kopien des neu erworbenen Iran Visa marschieren wir frohen Mutes zum turkmenischen Konsulat, wo uns bereits eine lange Schlange erwartet. Die 2slowspeeds (Australier) wirken etwas unbeholfen. Während Ms. Speed alles daran setzt den Konsul zufrieden zu stellen, erklärt uns Mr. Speed ihren bisherigen Fortschritt. Unser gemächliches Morgenritual deckt sich leider nicht mit den Öffnungszeiten. Da der arme überarbeitete Konsul bereits um 13:00 Uhr Feierabend hat, kommen wir heute gar nicht mehr dazu unsere Visa-Anfrage aufzugeben, weswegen uns nichts anderes übrig bleibt, als morgen pünktlich um 10:00 Uhr wieder auf der Matte zu stehen. Streng nach Reiseführer steuern wir die erste Tourismusattraktion an. Hoch hinaus gondeln wir mit der Seilbahn über Almaty auf den Kok-Tobe. Ob rasant auf der Rodelbahn oder romantisch auf dem Riesenrad, hier ist für jedermann etwas dabei. Während die Sonne am Horizont versinkt, verkosten wir die traditionelle Küche Kasachstans. Neben den altbewährten Mantis versucht sich Jonas an Kuurdak - einer herzhaften Leckerei. Neben Hammel-Herzen verfeinern Leber, Niere und Lunge das deftige Gericht.
09:45 Uhr - obwohl das Konsulat noch geschlossen ist, sind wir bereits die Vierten in der Reihe. Mit allen benötigten Unterlagen, welche wir dank Anweisung der beiden Australier noch zusammengestellt haben, schreiten wir siegessicher vor den Kontor. Selbstverständlich ist der Herr Konsul nicht gänzlich zufrieden und da wir unsere Hausaufgaben gestern am Computer erledigt haben, können wir die verlangten Änderungen nicht einfach von Hand einfügen. Der ganze Aufwand für unser Motivationsschreiben war also umsonst. Auf Knien dürfen wir den ganzen Brief noch einmal von Hand abschreiben. Ganz wichtig, das Ganze muss in blauer Tinte verfasst sein. Die letzten Flüchtigkeitsfehler können wir im direkten Austausch mit dem Beamten korrigieren, bevor er uns die offiziellen Formulare für das Gesuch aushändigt. Mit unterwürfigem Blick überreichen wir die ausgefüllten Zettel. Doch auch hier das selbe Spiel nochmals von vorne. Gelassen liest er unsere Arbeit solange durch, bis er auch hier noch die letzte Ungereimtheit aufdeckt. Frustriert beheben wir unsere letzten Patzer, bevor das Gesuch um 12:30 Uhr, im Austausch gegen eine Zahlungsanweisung, endlich entgegengenommen wird. Die Einzahlung kann wiederum nur bei einer bestimmten Bankfiliale getätigt werden und diese liegt nicht gleich um die Ecke. Anstatt die Bezahlung so schnell wie möglich abzuwickeln, quatscht das freundliche Fräulein am Schalter lieber mit uns über ihr Lieblings- und unser Heimatland. Mit der Quittung in der Hand eilen wir zurück und klopfen an die Schalterluke. Nach einer gefühlten Stunde öffnet uns der verschlafene Beamte dann doch noch die Balken, nimmt die Quittung entgegen und verabschiedet sich mit dem Hinweis, dass wir uns in ca. sieben Tagen über den Status erkundigen können.
Der angestauten Hitze in Almaty entgeht man am besten durch einen Ausflug in die Berge, oder wie wir, in einen Wasserpark. Im Gegensatz zu der bedeckenden Bademode in den Dörfern kann sich Sandra hier wieder ohne Jonas’ Badehose sonnen, und das sogar ohne gross aufzufallen.
Mitten in der Nacht geht es Knall auf Fall los. Die nächsten Tage verbringen wir hauptsächlich auf dem Topf und zwischendurch lenken wir uns mit aufmunternden Filmen wie etwa “Kevin allein auf dem Klo” oder “V wie …” - naja ihr wisst schon - ab. Aus sitzungstechnischen Gründen verlängern wir unsern Aufenthalt in Almaty. Mit flauem Magen sollte man vielleicht besser auf einen Rundgang durch den “grünen Basar” verzichten, denn Schweineköpfe und Ochsenschwänze sind einer raschen Genesung nicht förderlich.
Da das durchgelegene Hostelbett bei uns höchstens noch zu einem Hexenschuss führt, fühlen wir uns dazu veranlasst, unsere Lage schnellstmöglich zu verändern. Um uns richtig auszukurieren erlauben wir uns einige Tage Strandurlaub im kasachischen “Las Vegas”, Kapchagay.
Vom “Meer” geht es auf direktem Weg in die Wüste. Durch farbige Hügel führt uns erst eine Strasse und anschliessend eine Schotterpiste zu den tiefen Klippen des Sharyn Canyons. Nach einer extra Runde und mit einer gesunden Portion Fantasie erkennen wir die Einfahrt in die Schlucht. Unschlüssig besteigen wir die steile Einfahrt zuerst zu Fuss. Während wir uns die atemberaubende Abfahrt ansehen, reiht sich hinter uns ein niederländisches Pärchen ein. Nun gibt es für uns kein zurück mehr. Leichtfüssig klettert unser Zuhause den Abhang hinunter, dicht gefolgt von Stephanie und Harm. Bei bestem Licht schlängeln wir uns den imposanten Felswänden entlang bis wir uns auf einmal zentimetergenau zwischen zwei Felsbrocken hindurch manövrieren müssen. Überwältigt von den vielen Eindrücken erreichen wir das Camp am Ufer des Sharyn. Um das unbeschadet überstandene Abenteuer würdig zu feiern, köpfen wir eine Flasche Wein. Steph’s Augen funkeln wie Diamanten als wir unsere ebenso funkelnden Weingläser auspacken. Für ihr erstes Glas Wein seit ihrer Hochzeit im Juni überlassen wir dem Flitterpaar gerne unsere wertvollen Pokale. Proost!
Zum ersten Mal seit wir Moskau verlassen haben, treffen wir hier wieder vermehrt auf europäische Touristen. Gemeinsam mit Holländern, Polen und Briten lassen wir den Abend ausklingen. Aufgrund der geselligen Runde und dem reichhaltigen Frühstück verzögert sich unsere Abreise am nächsten Morgen.
Entgegen der Strömung waten wir durch ein Flussbett und nähern uns langsam unserem Tagesziel. Nach 30 Minuten über Stock und Stein stehen wir völlig unerwartet vor einem Schlagbaum. Wie es sich hier gehört, verhandeln wir über den Eintrittspreis. Wir legen alles in eine Waagschale und dank unserem unwiderstehlichen Charisma erwirtschaften wir einen Rabatt von satten zehn Prozent, was ungefähr CHF 0.80 ausmacht.
Das eiskalte Wasser im pittoresken Bergsee hindert uns daran einzutauchen. Die verblassten, abgestorbenen Fichten, welche aus dem türkisblauen Wasser ragen, erzeugen ein einmaliges Bild. Mit dem Erdrutsch vor über hundert Jahren entstand ein gespenstiger Unterwasser-Märchenwald. Eigentlich haben wir uns hier wieder mit den beiden Holländern verabredet, jedoch fehlt von ihnen jede Spur. Stattdessen treffen wir hier auf die halbe Schweiz. Neben vier wandernden Weltausstellungsbesuchern lernen wir auch Fanny (not funny, Haha) kennen. Sie reist ganz alleine mit der Eisenbahn und per Anhalter quer durch Zentralasien.
Gerade als wir unsere Erinnerungsfotos im Rucksack verstaut haben, treffen auch Steph und Harm am See ein. Ihr Navigator hat sie über eine schönere, aber dafür auch zeitintensivere Strecke geführt. Als Dankeschön für Harm’s Einsatz am Herd gestern Abend zaubern wir heute unser Menü Nr. 3. - gebratene Kartoffeln mit Spiegelei - auf den Tisch. Begeistert von unserem Vorhaben erzählen sie uns von ihrem Australien Aufenthalt und wie es dazu kam, dass sie zwischenzeitlich Herr über fiftyandsomecows waren.
Heute ist der grosse Tag. Hoffnungsvoll machen wir uns auf die Suche nach Handy-Empfang. Während Sandra ungeduldig auf das Smartphone starrt, hält Jonas Kurs in Richtung Zivilisation. Kaum leuchtet der erste Balken auf, drückt Jonas das Bremspedal nieder. Es klingelt und schon beim dritten Mal nimmt jemand den Anruf entgegen. Doch noch bevor wir überhaupt zu Wort kommen - “Piep,Piep,Piep” - Anruf beendet. Verdammt! Beim zweiten Versuch meldet sich nur noch eine kasachische Computerstimme. Das einzige, was wir dieser Nachricht entnehmen können, ist “Niet Balanz”, was so viel bedeutet wie “Guthaben aufgebraucht”. Die hilfsbereite Verkäuferin im Dorfladen überlässt uns ihr Telefon, doch wie verhext, ist auch ihr Guthaben sogleich aufgebraucht. Desillusioniert steuern wir die nächste Tanke an. Genervt, weil wir sie beim Trickfilm schauen unterbrochen haben, verkaufen uns die zwei Knaben, welche kaum über die Theke sehen, nicht nur Benzin, sondern auch Telefonguthaben. Ja oder Nein? Weder noch. Die Antwort lautet “vielleicht”. Der finale Entscheid über unsere weitere Reiseroute steht somit immer noch nicht fest. Immerhin bekommen wir eine positive, respektive keine negative Rückmeldung von dem Konsulat. Sollten die Turkmenen sich ihrer erbarmen und uns wider Erwartens in ihr Land einreisen lassen, können wir das Visum auch in Bishkek beziehen. Somit ist für uns klar, dass wir mit den Holländern nach Kirgisistan weiter ziehen und nicht wie anfangs befürchtet nochmals nach Almaty zurück müssen.
Auf’s Ende hin noch ein Novum, denn zum ersten Mal brauchen wir unser Zelt in Kasachstan nicht gegen die sengende Sonne, sondern wegen den bedrohlichen Gewitterwolken am Horizont. Trotz den gefühlten tausend SUG, die wir in Kasachstan erlebt haben, ist der heutige Regenbogensonnenuntergang nochmal etwas ganz Besonderes. Durch das lange Hin und Her war die Grenze gestern schon geschlossen. Dafür passieren wir heute den herzigen Grenzübergang Karkara am äussersten Zipfel Kasachstans bereits am frühen Morgen. Während unseren letzten Vorbereitungen fahren zwei Kinder in ihrem klimpernden Eselwagen durch unser Camp, um am Fluss die leeren Wasservorräte des kleinen Weilers wieder aufzufüllen.
Für einmal trennen sich unsere Wege. Während Sandra zu Fuss durch die Passkontrolle geschleust wird, muss Jonas beim Fahrzeug bleiben und die Kontrolle alleine meistern. Auf fast alles, was uns im no man’s land passieren könnte, waren wir vorbereitet. Nur nicht darauf, dass der kasachische Zöllner uns herzlichst auf deutsch verabschiedet. Ob uns am kirgisischen Zoll genau so eine schöne Überraschung erwarten wird? Wir werden sehen…
Wer denkt, dass Kasachstan bloss aus einer endlosen Steppe besteht, hat grundsätzlich recht. Wer aber denkt, dass es auf Dauer eintönig wird, den müssen wir leider enttäuschen. Von der Waldsteppe im Norden über die weite Hungersteppe im Zentrum bis hin zur Wüste im Südosten - die unterschiedlichen Naturzonen ermöglichen eine unbeschreibliche Vielfalt.
Die unendliche, menschenleere Weite zieht insbesondere uns Bergkinder aus der zersiedelten Schweiz in ihren Bann. Für alle, die Einsamkeit scheuen, bietet sich die Gegend rund um Almaty an. Vom “Meer” in der Steppe bei Kapchagay über die singenden Dünen im Altyn-Emel Nationalpark bis hoch in die “Schweiz Kasachstans” nach Shymbulak - Abwechslung ist garantiert.
Die Vermischung der beiden ohnehin schon sehr gastfreundlichen Kulturen der Nomaden und des Islams prägen hier das Zusammenleben der Menschen. Sollte man in der Ferne doch einmal auf Einheimische treffen, sind sie meist aufgestellt, äusserst wissbegierig und ausnahmslos hilfsbereit.
Für uns ist Kasachstan ein ganz klares Muss auf jeder Reise in und durch Zentralasien. Obwohl wir nur ein Bruchteil dieses vielseitigen Landes gesehen haben, sind wir uns sicher, dass der Rest davon mindestens genau so spannend ist. Im Reiseführer haben wir uns für nächstes Mal auch bei Astana und Umgebung ein dickes Kreuz gesetzt. Die moderne Architektur, der auf dem Reissbrett entworfenen Hauptstadt, wollen wir mit unseren eigenen Augen erkunden.
Uuuuuuuund - es gibt Kamele ;)